Hinter Gröpelinger Gardinen

Die Wohnung von Ute Heuschmann gleicht einer Schatztruhe voller Erinnerungen und gelebter Geschichte. Hier, in der Gröpelinger Heerstraße, ist sie geboren und aufgewachsen. Als Mitglied im Verein „Geschichtswerkstatt Gröpelingen“ hilft sie aktiv mit, Erinnerungen an einen Stadtteil zu erhalten, der so viel besser ist, als sein Ruf.

Ute Heuschmann arrangiert frische Rosen.
20231010-Heuschmann-070
Toller Blickfang – der offene Küchenschrank mit Sammlerstücken.
20231010-Heuschmann-321
Edles Wurzelholz und terrakottafarbenes Chenille in der guten Stube.
20231010-Heuschmann-101
Der sogenannte Gewerkschaftsblock ist das erste Gebäude, welches die GEWOBA gebaut hat.
20231010-Heuschmann-426

Die Gröpelinger Chaussee (heute: Gröpelinger Heerstraße) taucht erstmals im Mittelalter in den Karten auf. Heute ist sie eine vielbefahrene Straße mit altem, üppig grünem Baumbestand. Zu den Stilmitteln des beinahe hundertjährigen Mehrfamilienhauses gehören sogenannte Gaff- oder Neidköpfe als Fassadenschmuck über den giebelförmigen Fensterstürzen. Die Köpfe waren gedacht, um Unheil und Böses von den Bewohnern fernzuhalten. Und fragt man Ute Heuschmann, haben sie ihre Aufgabe bis heute mehr als erfüllt.

Hinter der schweren, hölzernen Kassettentür schlängelt sich eine vernehmlich knarzende Treppe in die zweite Etage, bis vor die Wohnung von Ute Heuschmann. Vom Fenster verfolgt sie den Wandel der Zeit, das Kommen und Gehen von Menschen und Geschäften und das stetige Wachsen eines Stadtteils, der Ute seit sie denken kann ein ganz wundervolles Zuhause bietet. Schon immer steht Gröpelingen für sie für einen Ort, der von den Menschen lebt, von Offenheit und Freundlichkeit, von Kinderlachen und echtem Zusammenhalt.

GRÖPELINGEN IN DEN NACHKRIEGSJAHREN
Geboren wird Ute Heuschmann im Jahr 1947 – im Wohnzimmer der 3-Zimmer-Wohnung, in der sie bis heute lebt. Utes Großeltern, Otto und Elisabeth Bethmann, hatten den Neubau zu Beginn der 1930er-Jahre bezogen. Nach Ende des Krieges ist der Wohnraum knapp – auch das Haus an der Gröpelinger Heerstraße hatte Schaden genommen. Ute Heuschmann erinnert sich: „Im Hof hinter dem Haus gab es einen Bombentrichter, andere Einschläge trafen das Dach. Zum Glück blieb das Haus aber bewohnbar und so lebten wir hier schließlich mit drei Generationen auf gerade einmal 59 Quadratmetern. Neben meiner Mutter fanden auch deren Schwester Ursula und Schwager Werner hier Unterschlupf.“

Lebensmittelpunkt, damals wie heute: die schmale Küche. Im gegenüberliegenden Wohnzimmer schläft nach Kriegsende Utes Mutter Erika, daneben leben Onkel und Tante mit ihren zwei Kindern. Im heutigen Esszimmer sie selbst, gemeinsam mit den Großeltern. Ute Heuschmann erinnert sich an ihr Bettchen vor dem Fenster zum Balkon, auf dem sie heute Vögel füttert und beobachtet.

Jede Erinnerung aus den vergangenen fast 80 Jahren macht diesen Ort zu meinem Zuhause und diese Wohnung zu etwas ganz Besonderem!

Ute Heuschmann

BEINAHE – HAWAII
Utes Mutter ist unverheiratet, ihr Verlobter ein in Gröpelingen stationierter amerikanischer Soldat mit Wurzeln im US-Bundesstaat Hawaii, der möchte, dass seine Braut mit ihm geht. Doch die Eltern der damals 20-Jährigen verweigern ihr Einverständnis. Zwei Jahre später reist er zu einem Einsatz im Koreakrieg ab. Ute Heuschmann: „Irgendwann dann haben die beiden aufgehört sich zu schreiben und ich habe nie wieder etwas von meinem Vater gehört.“

Das Fehlen ihres Vaters spürt Ute Heuschmann jedoch nie: „Mit meinem Leben bin ich bis heute rundum zufrieden, ich habe nichts vermisst. Da war die Familie, unsere Nachbarn, Freunde, die Gröpelinger, denen ich mich im Herzen wohl immer verbunden fühle.“ Ob sie ihre hawaiianischen Wurzeln manchmal spüre? „Überhaupt nicht!“, lacht die Rentnerin, sie höre jedoch immer mal wieder, dass sie diese unbeschwert-glückliche Ausstrahlung der Hawaiianer habe.

Im Urlaub mit Ehemann Günter zieht es sie Jahre später eher in Richtung Orient – bis in die 2000er reisen die beiden mindestens einmal im Jahr in die Türkei und waren auch beeindruckt von Ägypten.

Lieblingsplatz Küche.
20231010-Heuschmann-310
„Die Fliesen hat meine Mutter damals selbst ausgesucht“ – Starke Retro-Farben im Bad.
20231010-Heuschmann-254
Das Treppenhaus mit viel Holz und Geschichte.
20231010-Heuschmann-345

EIN LEBEN IM STETIGEN WANDEL
Ute Heuschmann macht nach der Schule eine Ausbildung zur Kaufmannsgehilfin und arbeitet in verschiedenen Geschäften als Gardinenfachverkäuferin, zuletzt bei Karstadt. Die Verlobung mit ihrem Günter feiert Ute im Jahr 1965, im Januar 1968 folgt die Hochzeit. Tochter Susanne erblickt am 30. Oktober 1968 das Licht der Welt. Während dieser Zeit lebt das junge Paar für wenige Jahre in einer eigenen Wohnung.

Der Balkon wird bis in den späten Herbst mitbewohnt.
20231010-Heuschmann-194

Als Utes Mutter heiratet und mit ihrem Mann aus der elterlichen Wohnung in ein eigenes Haus zieht, macht sie Platz für die dreiköpfige Familie, welche die für sie mittlerweile längst geschichtsträchtige Wohnung im Bremer Westen nur zu gerne komplett renoviert und bezieht.

Im Ess- und Arbeitszimmer dominieren seither dunkle Farben und ein Mix verschiedener Stoffe. Auf der dunklen Tapete setzt ein metallisch schimmernder Effekt einen eleganten Akzent. In der Mitte des Raumes gruppieren sich gepolsterte Stühle um einen ovalen Esstisch.

Was vom Lebensgefühl in den vergangenen Jahrzehnten stets eine feste Größe blieb, sei die Hausgemeinschaft und Nachbarschaft, erzählt Ute Heuschmann: „Man kennt sich, der Kontakt ist immer gut. Mit meiner Freundin Ulla aus Kindertagen treffe ich mich noch heute, am liebsten spielen wir dann zusammen Kniffel. Außerdem habe ich noch immer sehr liebe Nachbarn, die sich kümmern, wenn ich mal nicht so kann und sogar Essen bringen, dafür bin ich unendlich dankbar.“

Mit meiner Freundin Ulla aus Kindertagen treffe ich mich noch heute, am liebsten spielen wir dann zusammen Kniffel.

Ute Heuschmann

Denn ja, auch Trauriges hat Ute Heuschmann in ihren vertrauten vier Wänden erlebt. Erst im vergangenen Jahr starb Ehemann Günter in genau dem Raum, in dem sie selbst 75 Jahre zuvor das Licht der Welt erblickte. Ein Grund für Veränderung? Ute Heuschmann: „Jede Erinnerung macht diesen Ort zu meinem Zuhause und diese Wohnung zu etwas ganz Besonderem. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Zuhause meiner Kindheit, mich selbst als junge Mutter und ja, ich spüre noch immer die Anwesenheit meines Mannes. Für mich: Der beste Grund zu bleiben.“

Genau wie die hübsch gestaltete Fassade des Acht-Parteien-Hauses trotzt auch Ute Heuschmann der Zeit. In ihrer Freizeit engagiert sie sich ehrenamtlich für die Geschichtswerkstatt Gröpelingen. Auch Tochter Susanne, die mit ihrem Mann Bernd und Sohn Erik Joschua ebenfalls in Gröpelingen wohnt, ist im Verein aktiv. Ute Heuschmann: „Durch die Zeitung wurden wir auf eine Veranstaltung des Vereins aufmerksam, gingen gemeinsam hin und haben uns praktisch sofort heimisch gefühlt. Es ist ein sehr schönes und erfüllendes Gefühl, mit der Arbeit für den Verein auch ein Stück meiner eigenen Geschichte in diesem Stadtteil zu bewahren.“